Seit Oktober gibt es an der Schule Wegscheid die erste Okarinaklasse im Passauer Land in der Nachmittagsbetreuung
Hochkonzentriert schaut Anna-Lena auf das Notenblatt vor ihr. „Fällt er in den Graben“, singt Lehrerin Vera Unfried die Tonleiter nach oben und deutet auf die schwarzen Notenköpfe. Anna-Lena bläst in ihr Instrument und hebt einen Finger nach dem anderen von ihrer blauen Okarina. Hell und klar kommen die Töne aus der Flöte. „Fressen ihn die Raben“, singt die Lehrerin wieder nach unten – Anna-Lena verschließt die Löcher wieder.
Zehn Mädchen sitzen an diesem sonnigen Dienstagnachmittag im Musikzimmer der Wegscheider Schule und lernen ein ungewöhnliches Instrument: Okarina. Die Okarina (aus dem Italienischen: Gänslein) ist ein einteiliges Blasinstrument, meist aus Ton oder Keramik gefertigt, das es in den unterschiedlichsten Formen gibt. Die Mädchen halten Plastikokarinas in leuchtenden Farben – blau, grün, orange – in den Händen, die wie Ufos ausschauen; mit einer Schnur hängen sie um ihren Hals. Sie sind die dritte Gruppe, die an diesem Nachmittag Okarina lernt, im Rahmen der Nachmittagsbetreuung.
„Winter, der ist da“ heißt das nächste Lied. Lehrerin Vera Unfried steht am Flügel, haut in die Tasten und singt laut vor. Alle zehn Mädchen blasen jetzt gleichzeitig in ihre Okarinas. Manchmal sind die Finger noch ein bisschen zu klein und können die Löcher des Instruments noch nicht ganz verschließen. Dann hört man den einen oder anderen quietschenden, schiefen Ton. Aber das macht nichts: Melodie und Rhythmus bekommen alle gut hin. Ein stolzes Lächeln huscht über Anna-Lenas Gesicht, als der letzte Ton verklungen ist. In wenigen Monaten haben die Kinder, die zum Teil nicht einmal Notenlesen konnten, Kinderlieder gelernt. Noch ein Lob von der Lehrerin, dann ist die Stunde vorbei. Nach dem Unterricht laufen die Mädchen schnatternd zum Waschbecken, um ihre Okarinas mit Wasser abzuspülen: damit die Leihinstrumente auch von der nächsten Gruppe wieder benutzt werden können.
„Die Okarina ist ein ungewöhnliches und ernstzunehmendes Instrument, sie hat einen ganz eigenen Klang“, sagt Kurt Brunner, Leiter der Kreismusikschule, der selbst eine Okarina aus Ton besitzt. Er strahlt mit der Sonne um die Wette, die an diesem Winternachmittag in sein helles Büro in Salzweg hereinscheint. Nur drei andere Musikschulen in ganz Bayern bieten Okarinaklassen an, hat er recherchiert. Und die Kreismusikschule Passau ist seit Oktober eine weitere: Seither nämlich wird für Kinder, die die Nachmittagsbetreuung der Grundschule Wegscheid besuchen, kostenloser Okarinaunterricht angeboten. Der Unterricht ist Teil der Kooperationsklassen des Landkreises, die sukzessive an den Schulen eingerichtet werden: Blockflöte und Blasinstrumente können an einigen Schulen erlernt werden; Chorklassen werden überdies angeboten.
Und nun also die Okarinaklasse von Wegscheid. „Alles neu“, freut sich Kurt Brunner. Bei 2,6 Millionen Euro liegt 2019 das Gesamtbudget der Kreismusikschule Passau. Die Kosten für die Okarinaklasse teilen sich der Landkreis (Personalkosten) und die Gemeinde Wegscheid. Als Lehrerin haben die Grundschüler eine Meisterin ihres Faches: Vera Unfried-Kinateder, 33 Jahre alt, studierte Musikpädagogin. Sie arbeitet als Dozentin an der Universität Passau für Klavier und Klavierbegleitung und als Musiklehrerin; sie selbst spielt Klavier, Orgel, Blockflöte und eben Okarina. 2007 hat sie begonnen, Okarina zu lernen, bei Okarina-Spielern auf der ganzen Welt, sie war auf Festivals in Europa und in Südkorea und bei Okarinaparaden mit tausenden von Leuten. „Die Okarina hat einen sehr schönen Klang. Er ist tief und warm, es gibt aber auch hohe und spitze“, sagt sie.
„Ich habe selbst bestimmt 50 Okarinas zuhause“, berichtet die junge Mutter. Sie hat Piccoloflöten, auf denen sie ganz hohe, schnelle, exakte Melodien spielt; größere, denen sie dumpfere, breitere Töne entlockt. Sie hat Okarinas in elegantem Rot; und eine, die wie ein Frosch ausschaut. Während die Standardokarina über zehn Löcher verfügt, hat Vera Unfried-Kinateder auch eine sogenannte Triple-Okarina. Diese Flöte hat drei Resonanzkammern und drei Mundstücke, mit deren Hilfe sie einen Tonumfang von drei Oktaven hervorbringt. Und damit kann man allerhand spielen. „Bei uns ist die Okarina vor allem in der Volksmusik bekannt, aber ich spiele genauso klassische Stücke und Weltmusik“, erklärt sie. „Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt.“
Bei den Kleinen aber fängt sie mit einfachen Kinderliedern und Volksliedern an, sie zeigt Grifftabellen und lernt Notenlesen mit ihnen. Die meisten Kinder haben vorher noch kein Instrument gelernt und musizieren zum ersten Mal selbst. „Bei der Okarina ist gleich ein Ton da, sie ist pflegeleicht und handlich, sie ist chromatisch“, beschreibt sie die Vorteile des Instruments. Als sie die bunten Flöten hergezeigt habe, seien die Kinder gleich begeistert gewesen. „Für die meisten war das Instrument ganz neu, sie kannten es gar nicht.“ Das ist jetzt anders: Manche Kinder haben sogar schon ihre eigene Okarina aus Ton oder Keramik bekommen, die sie stolz zum Unterricht mitbringen.
Wer die Okarinaklasse hören möchte: Die Klasse tritt beim Zweigstellenkonzert der Kreismusikschule am 9. Juli um 19 Uhr an der Schule Wegscheid auf.
Text und Bilder: Sandra Niedermaier (Passauer Neue Presse)